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Was ich über Traumatisierungen denke - 14.4.2003

 

Zuerst einmal eine Einführung, die ich im Jahr 2002 verfaßt habe.

Gerhard Buchinger
Traumatisierungen

Geschichte der Traumatisierungen

Die Geschichte der Traumatisierungen ist geprägt durch eine lange Verleugnung des psychischen Aspektes. Ursprünglich wird zwischen Körper und Psyche nicht getrennt. Seit der Aufklärung ändert sich das und psychisch Kranke werden nicht mehr als “vom Teufel besessen” betrachtet. Die ersten Befunde der Neurologie führen dazu, daß Geisteskrankheiten als Krankheiten des Gehirns betrachtet werden, die Meinung von der Somatogenese von psychischen Krankheiten gewinnt an Bedeutung.

Eine wichtige Gruppe sind die Anfallskranken mit epileptische Anfälle, wobei vermutet wird, daß es sich dabei um Krampfanfälle des Hyster, des Uterus handle. Die meisten Anfallskranken sind damals Frauen. Charcot in Paris bemerkt, daß es möglich ist, Anfälle durch Hypnose hervorzurufen und auch verschwinden zu lassen. Somit kann davon ausgegangen werden, daß psychische Symptome durch seelische Ursachen herbeigerufen und mit seelischen Mitteln behandelt werden können. Charcot gilt als Vertreter der Psychogenese von psychischen Krankheiten. Ein Schüler von Charcot war Janet, der meint, daß schwere seelische Störungen posttraumatische Zustände seien und oft etwas mit Kindesmißhandlung, Kindesmißbrauch und anderen schweren Traumata zu tun hätten. Auch Sigmund Freud hospitiert in Paris. Freud versucht, die Charcot´sche Hypnose bei schwer zu behandelnden psychogenen Störungen anzuwenden. Er versetzt seine Patienten in Hypnose und fordert sie auf, dabei alles auszusprechen, was ihnen zu dem Symptom in den Sinn kommt. Dies kann mit einer heutigen Traumaexposition verglichen werden. Freud kommt zu dem Schluß, daß am Grunde jeder hysterischen Symptombildung eine Erfahrung vorzeitiger sexueller Erregung in Kindheit und Jugend liegt. Freud publiziert seine Thesen und Krafft-Ebing spricht von einem wissenschaftlichen Märchen, Freud wird ausgegrenzt und bekommt keine Überweisungen mehr. Freud relativiert in der Folge seine Aussagen und zwischen 1895 und 1950 spielt dieses Thema in der Wissenschaft keine Rolle.

Eine zweite wissenschaftliche Richtung begründet sich in den Forderungen von Versicherungsnehmern nach Unfällen. Nach Eisenbahnunfällen oder Unfällen in Fabriken gibt es Menschen, die äußern, sie könnten nicht mehr schlafen, fängen an zu zittern, könnten sich nicht mehr konzentrieren und seien durcheinander.

Frühe Erklärungen sind die Irritationen der Wirbelsäule durch Erschütterungen, die später zum Zittern führen, was auf eine organische Genese hindeutet.

Demgegenüber steht die Gruppe derer, die meinten, daß das Wesentliche der Schock sei und daß es eine traumatische Neurose gebe.

Eine weitere Gruppe spricht von Simulanten und Versicherungsbetrügern.

Der erste Weltkrieg spielt eine wichtige Rolle. Im ersten Weltkrieg entsteht eine Symptomatik, die vorher und nachher in Kriegszeiten nur selten beobachtet worden ist. Es handelt sich um die Kriegszitterer. Das sind Soldaten, die plötzlich ein unstillbares Zittern bekommen, das nicht abzustellen ist. Werden sie aus der Frontlinie herausgenommen, beruhigen sie sich allmählich wieder. Sie werden im Lazarett behandelt und sobald sie wieder an die Front sollten, kommt das Zittern wieder. Selbstverständlich ist wiederum die erste Hypothese, dies sei somatogen, körperlich bedingt, das sei der Granatenschock (durch die Granatenexplosionen kommt es in den Schützengräben zu heftigen Erschütterungen, und diese Druckwellen würden im Wirbelsäulenbereich Irritationen auslösen, die wiederum verantwortlich sind für dieses Kriegszittern).

Eine zweite große Gruppe bilden diejenigen, die sagen, das sind feige Gesellen und Vaterlandsverräter, die sich nur drücken und nicht kämpfen wollen, sondern sich nur der Situation entziehen. Es entwickelt sich eine militärpsychiatrische Tradition, die darin besteht, daß gesagt wird, die psychiatrische Behandlung eines Soldaten muß belastender sein als der Fronteinsatz. Diese “Behandlung” ist erfolgreich in allen kriegsführenden Nationen durchgeführt worden. Mit Kaltwasserbehandlungen, Elektroschocks und Aversionstherapie wird durchaus mit Erfolg versucht, die Soldaten dazu zu motivieren, wieder in den Einsatz zurückzugehen. Die Soldaten flüchten im Grunde genommen irgendwann einmal aus dem Lazarett, bekommen aber sehr schnell wieder dieses Kriegszittern und sind dann doch nicht mehr einsatzfähig. Heute weiß man ziemlich sicher, daß die Kriegsführung des Schützengrabenkrieges dieses Symptom hervorgerufen hat. Die Soldaten waren völlig hilflos in ihren Schützengräben eingegraben, und es war eine absolut statistische Willkür, ob sie überlebten oder nicht. Es hat in Frankreich während des ersten Weltkrieges auf den Schlachtfeldern Tage gegeben, da gab es fünfzig-, sechzig-, siebzigtausend Tote an einem Tag in allen kriegführenden Nationen. Man erforscht zur Zeit, welche Effekte diese Massentraumatisierungen möglicherweise auf die Geschichte der Nachkriegszeit, auf die Zeit 1920/1930 und die Katastrophe des 2. Weltkrieges hatten.

Es ist eine potentiell lebensgefährliche Situation. Es gibt einige wenige Personen in Großbritannien den USA, die versuchen, bei diesen Soldaten, die aus dem 1. Weltkrieg wiederkamen, eine “talking-cure” zu machen, eine Redekur nach Sigmund Freud. Kardinger ist ein Jahr bei Freud gewesen und hat selbst in seiner Autobiographie berichtet, daß es ihm als Kind nicht gut gegangen ist, daß er viel geschlagen wurde, daß er verschiedene Traumata erlebt hat. Er konnte sich in posttraumatische Zustände einfühlen und versuchte eine Redekur mit den Soldaten, sagte aber ganz offen, daß sie ihnen nicht geholfen habe.Was die Soldaten trotzdem gut fanden, war, daß ihnen überhaupt jemand geglaubt hat und ihnen zugehört hat und sie nicht gleich als Simulanten oder Versicherungsbetrüger abgestempelt hat.

Nach dem 1. Weltkrieg gibt es in allen Nationen eine ganze Reihe von Soldaten, die Versicherungsansprüche stellen, was zum volkswirtschaftlichen Problem wird. Mitten in der Weltwirtschaftskrise hat man kein Geld dafür übrig und es gibt sehr bald Gesetze, die besagen, daß es für diese Probleme kein Geld gibt. In Deutschland gibt es einen Beschluß des Reichsversicherungsamtes, der perfide ist und besagt: Sofern jemand von seinem Unfall etwas hat, ist es zwangsläufig so, daß das der Grund für seine persistierenden Symptome ist. Das bedeutet: sobald jemand eine Rente beantragt, hat er einen sekundären Krankheitsgewinn, der die Ursache stabilisiert und verstärkt, und das spricht dagegen, daß er bezugsberechtigt ist. Das ist ein hervorragender, geradezu klassischer Double bind, aus dem es kein Entrinnen gibt: In dem Moment, in dem Menschen mit solchen Symptomen einen Rentenantrag stellen, sind sie Rentenneurotiker und haben deshalb keinen Rentenanspruch.

Im zweiten Weltkrieg versuchen die Amerikaner und Briten einen anderen Umgang mit ihren Soldaten als im ersten. Sie haben aus der posttraumatischen Belastungsstörung gelernt, machen Militärpsychiatrie und Gruppentherapie. Therapeutische Gemeinschaften entstanden, man versucht, eine bestimmte Gruppenkohäsion herzustellen, weil man festgestellt hat, daß das beste Mittel gegen posttraumatische Belastungszustände eine gute Gruppenkohäsion ist. Das ist das, was am ehesten verhindert, daß Soldaten schwere posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln.

Danach folgt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und derzeit ist es die Thematisierung der Flucht und Vertreibung der Deutschen gegen Ende des 2. Weltkrieges. In der Folge kommen die Themen Traumatisierung und Posttraumatische Belastungsstörung immer mehr in Diskussion und eine Folge davon sind die psychologische Betreuung nach Katastrophen und Kriegen. Hier taucht ein wesentlicher Unterschied auf. Während unter “normalen” Menschen ein abgrenzbares Traume, wie ein Todesfall oder ein Unfall in ein geordnetes sicheres Leben hereinbricht, haben Kriege und traumatisierende Umgebungen, wie dies in pathologischen Familiensystemen (Verwahrlosung, Mißbrauch, Mißhandlung, Alkohol-, Drogenabusus, ... ) der Fall ist, eine andere Auswirkung auf den Verlauf der Traumatisierung und Traumabearbeitung. Einzelne Traumatisierungen in relativ geordeneten Verhältnissen lösen zwar pathologische Reaktionen aus, diese klingen aber nach einer gewissen Zeit und bei der entsprechenden psychotherapeutischen Aufarbeitung wieder ab.

Traumatisierungen über Jahre hinterlassen beim Klienten eine wesentlich massivere Störung. Die Copingstrategien sind unterschiedlich. Während eine einzelne Traumatisierung, so tragisch dies auch ist, in ein Feld von gut entwickelten Copingstrategien, eine relativ stabile Bindungssitaution und ein Vertrauen in die Welt fällt, so ist bei langandauernden und immerwiederkehrenden Traumatisierungen, wie dies etwa in pathologischen Familiensystemen häufig der Fall sein kann, ein Vertauen in die Welt oft nie aufgebaut worden, es mangelt an “gesunden” Copingstrategien, aufgrund dieses Musters und der aufrechten pathologischen Familienstruktur kommt es immer wieder zu Retraumatisierungen, wobei sich eine Mischung aus schwer unterscheidbaren Inhalten alter, früher Traumatiserungen und später im Leben auftretender Retraumatisierungen ergibt.

Eine grundsätzlich negative, resignierende Einstellung zum Leben mit allen möglichen Selbstheilungsversuchen wie Süchten, etc. ist meist die Folge. Infolge von Kriegen kann es eine ähnliche Entwicklung geben, denn hier liegt auch eine oft über Jahre dauernde Traumatiserung vor. Wie soll ein Mensch den Umstand verarbeiten, daß er seine engsten Verwandten verloren hat und selbst mehrmals in Todesgefahr war? Dies ist nur schwer möglich.

Heute ist sich die Wissenschaft einig darüber, daß Kriege, Gewalt gegen Menschen, generell Gewalt in der Familieund sexueller Mißbrauch massive Schäden hervorrufen. Begriffe wie das Battered-Child-Syndrom und die Broken-Home-Familie entstehen.


Die Traumasituation – Eine Erfahrung von Unzuverlässlichkeit

Definition

Nach der Definition werden

1. das traumatische Ereignis,
2. die traumatische Reaktion und der
3. traumatische Prozeß mit der Chronifizierung und den Symptome

unterschieden.

Bei Traumatisierungen kann immer wieder ein ähnlicher Verlauf beobachtet werden: ein traumatisches Ereignis ist ein Ereignis, das die üblichen Anpassungsstrategien und Copingmechanismen sowohl physisch als auch psychisch überfordern.
Wenn eine reale Flucht nicht möglich ist, dann kommt es zu einer Dissoziation (in einem totalen Gefühl von Ohnmacht und Betäubung). Der Klient zeigt einen “Tunnelblick”. Die Dissoziation kann bis zu einer Depersonalisation, Derealisierung führen. Tiere würden bei einem traumatischen Ereignis sterben, Menschen tun dies meist aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten nicht. Sie sind fähig, zu abstrahieren bzw. abzuspalten.

In der Traumatisierung werden die basalen Gefühle über die Welt, das Urvertrauen in die Welt und in sich selbst und die Beziehungs- und Bindungsqualität zerstört.


Evidenzerlebnis



traumatische Situation subjektive Reaktion



Traumatisierung

die Traumatisierung ist u.a. abhängig von

4. Alter
5. biologische/physiologische Ausstattung (robust/sensibel)
6. Vorschädigungen, Vernachlässigung
7. Beziehung zum Täter (je näher desto stärker)
8. Schwere, Dauer (dauerhafte Traumatisierungen wirken stärker als einzelne Ereignisse)
9. Art
10. Umfeld (gibt es verläßliche Bezugspersonen)
11. Ressourcen, innerer Umgang mit der traumatischen Situation
12. Folgetraumata
Bei Traumatisierungen bietet es sich an, den Verlaufsprozeß der Symptome zu betrachten und von einer statischen Sichtweise abzusehen, da mit einer Vielzahl von Symptomen und Syndromen als möglichen Folgeerscheinungen zu rechnen ist, die sich in der Folge wechselseitig beeinflussen. Dies ergibt sich aus der im Lebenslauf gebildeten Wirklichkeitskonstruktion des Menschen. Es macht daher wenig Sinn, eine unverrückbare Diagnose zu stellen. Es kann von allgemeinen und speziellen psychotraumatischen Syndromen gesprochen werden.


Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM IV


A.
Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren:

1 Die Person erlebte, beobachtete oder war rnit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten.

2 Die Reaktion der Person urnfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen. Beachte: Bei Kindern kann sich dies auch durch aufgelöstes oder agitiertes Verhalten äußern.


B.
Das traumatisehe Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt:

1) Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können. Beachte: Bei kleinen Kindern können Spiele auftreten, in denen wiederholt Themen oder Aspekte des Traumas ausgedrückt werden.

2) Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis. Beachte: Bei Kindern können stark beängstigende Träume ohne wiedererkennbaren Inhalt auftreten.

3) Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden, einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen auftreten). Beachte: Bei kleinen Kindern kann eine traumaspezifische Neuinszenierung auftreten.

4) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.

5) Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.

C:
Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden).
Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor:

1) Bewußtes Verrneiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem
Trauma in Verbindung stehen,

2) bewußtes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen,

3) Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern,

4) deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten,

5) Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen,

6) eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z. B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden),

7) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z. B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder normal langes Leben zu haben).


D.
Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor:

1) Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlafen
2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche
3) Konzentrationsschwierigkeiten
4) übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz),
5) übertriebene Schreckreaktion.


E. Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als 1 Monat.


F.
Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

Bestimme, ob
Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern.
Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern.

Bestimme, ob
Mit verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate
nach dem Belastungsfaktor liegt.

Beim basalen psychotraumatischen Belastungssyndrom sind drei Dimensionen von Bedeutung:




&Mac183; intrusive Erinnerungsbilder - Wechsel von Verleugnung und möglichst dosiertem Wiederzulassen der traumatischen Erinnerungsbilder sind ein Grundmuster in der Psychophysiologie der Traumaverarbeitung,

&Mac183; Verleugnung / Vermeidung und das

&Mac183; physiologische Erregungsniveau.

Diese drei Dimensionen können abhängig von der Natur der traumatischen Situation und der Disposition des Individuums variieren. So kann es einerseits bei extremer Vermeidung / Verleugnung zu “frozen states” , zu apathisch-depressiven Erscheinungsbildern und einem katatonieähnlichen Erscheinungsbild kommen und andererseits bei extremer Intrusion zu einem agitierten Erregungszustand und hilfloser Überflutung durch traumatische Reize bzw. Erinnerungen. Extreme Erregungszustände führen zu Bluthochdruck, Kammerflimmern, kardialer Muskeldegeneration, koronaren Herzerkrankungen, Migräne, Spannungskopfschmerz, funktionellen Störungen des muskulären Apparates, Magengeschwüren und Colon irritabile (chronischer Durchfall).

Vergleich zwischen objektiver und subjektiver Situation

Der Vergleich zwischen objektiver und subjektiver Situation ermöglicht es, die Schwere der Traumatisierung festzustellen. In der Therapie kann es sein, daß der Klient angibt, eine schöne Kindheit gehabt zu haben. Wird er dann gefragt, woran er sich erinnert, so kann es sein, daß er angibt, sich an Nichts zu erinnern oder etwa erst an die Zeit nach dem 10. Lebensjahr. Die subjektive Bewertung der Situation sieht oft völlig anders als als die (mehr oder weniger) reale, objektive. Es ist also wichtig, so viel Informationen vom Klient, vom Umfeld des Klienten, usf. wie möglich zu bekommen.


1. Objektive Situation

&Mac183; Was ist objektiv geschehen?
&Mac183; Was weiß ich über die Situation?
&Mac183; Welche Fakten kann ich erheben? (Ressourcen, Geschwister, Haustiere, Verurteilungen, Anzeigen, etc.)

Bei der Bearbeitung von Traumatisierungen spielt “Objektivität” eine wichtige Rolle. Bereits das Finden und Festhalten von Fakten (Struktur und Information) wirken heilend. Ein Klient berichtete: “Das psychologische Reden bringt ja Nichts, man muß es ja trotzdem selber lösen, aber daß mir einmal jemand zuhört, ist schon toll”.


2. Subjektive Situation

&Mac183; Wie hat das Opfer die Situation erlebt?
&Mac183; Welche Handlungsmöglichkeiten hatte das Opfer?

Je größer die Diskrepanz zwischen objektiver und subjektiver Situation ist, desto tiefer liegt die Traumatisierung.

Kann der Klient die Traumasituation schildern, dann ist es auch wesentlich leichter für ihn, diese zu verarbeiten. Die Verarbeitung geschieht meist in einem fortgeschrittenen Stadium der Traumatherapie.

Fühlt sich der Klient schuldig, “ich bin schuld, sonst hätte der Täter das nicht getan”, oder “ich lasse niemanden an mich heran” oder ist keine Beziehung möglich, so ist die Traumatisierung schwer.


Symptome

Symptome beschreiben die Tatsache und Art der Traumatisierung meist sehr gut, liegen zwischen objektiver und subjektiver Realität und bieten eine Möglichkeit, mit der Traumatisierung umzugehen. Die Gefahr besteht hier, daß es bei einem Symptomentzug zu einem Strukturverlust kommen kann, das heißt, daß etwa junge Frauen, die ritzen, gefährdet sind, wenn sie zu ritzen aufhören, ihre Struktur zu verlieren und in eine Psychose abzugleiten. Das Gleiche gilt für viele Formen der Kompensation, die sich in Symptomen äußern (Trinken, Freßsucht, Drogen, sexualisiertes Verhalten, etc.). Das Stimmungen, die zur Symptombildung führen, können wie folgt beschrieben werden:

&Mac183; Klienten berichten: “es war wie ein innerer Zwang”oder “wenn ich schneide, spüre ich den Körper”.
&Mac183; Hineinnehmen des Täters – Klienten berichten, daß eine “fremde Macht” in ihnen wohnt. Sie identifizieren sich mit dem Täter, um zu überleben. Täteranteile werden als Teil des Selbst internalisiert - “das Böse ist in mir”. Das Hineinnehmen des Täters ist meist umso stärker, je näher der Täter ist (räumlich oder in der Familie). Auch ein Sympathisieren mit dem Täter bei Mißbrauch kommt oft vor, das Opfer geht immer wieder zum Täter. Ferenci spricht von einem “Brei” aus Lust, Gewalt, Ohnmacht und großer Angst. Zu einer Lösung kommt es dann, wenn die Klienten merken, daß dies nicht ein Teil von ihnen ist.
&Mac183; Die Klienten haben einen geringen Selbstwert.
&Mac183; Die Klienten berichten von Bildern, die zusammenhangslos scheinen - traumatische Erfahrungen werden als Bilder abgespeichert.
&Mac183; Entwertungen, Abwertungen, Reduktionen und Leugnung sind Abwehrmechanisman nach einer erfolgten Traumatisierung, die dahinterliegende Qualitäten und Gefühle wären Schmerzen, Trauer und Wut und können aufgrund ihrer Intensität nicht erlebt und deshalb auch nicht verarbeitet werden.
&Mac183; Bei einer Traumatisierung wird durch Gewalteinwirkung die Kontaktgrenze zerstört. Diese Grenze ist ein fruchtbarer Ort der Erkenntnis, zwischen der Kontaktgrenze können Kontakt und Individuation entstehen, durch einen Austausch mit anderen im Raum dazwischen ist eine Entwicklung möglich, nach einer Traumatisierung kommt es zu einer Abwehr von Erinnerungen im Vorfeld, sodaß diese erst gar nicht an der Kontaktgrenze auftauchen können, bzw. die Kontaktgrenze ist gar nicht vorhanden.
&Mac183; Bei Traumatisierungen wird die Regulationsfähigkeit von Gefühlen gestört – entweder zeigen sich überhaupt keine Gefühle, es herrscht eine Gefühlslehre vor oder es kommt zu massiven Gefühlsausbrüchen, die wie Gefühlsüberschwemmungen anmuten. Starke Gefühlsschwankungen sind ebenfalls symptomatisch – ein Heilungsansatz hier würde bedeuten, in die Mitte zu kommen, die Mitte zu finden.
&Mac183; Im traumatischen Prozeß kann die Aggression nach außen gerichtet werden oder nach innen (Versteinerung, psychosomatische Reaktionen, Autoaggression, Totstellen “ich bin starr, wie gelähmt, habe nichts denken können”, ...)

Symptome dienen dem Überleben und sind sehr wichtig. Wird bei traumatisierten Klienten an den Symptomen gearbeitet, so kann es zu Dekompensationen kommen. Kompensationen können vielerlei Art sein – Arbeit, Leistung, Depressionen, Eßstörungen, Selbstverletzungen, Drogen- und Alkoholabusus, diverse Selbstheilungsversuche, Sado-Maso-Spiele, etc.

Kompensationen führen zu einem labilen Gleichgewicht. Das traumakompensatorische Schema kann beinhalten, daß man angepaßt sein muß, um nicht geschlagen zu werden, dick und häßlich zu werden, um nicht sexuell belästigt zu werden. Dies zeigt sich bei allen Traumatisierten. Es kommt zu einer Abspaltung von schwachen Teilen des Selbst: “ich fühle nichts, es hat mir nichts ausgemacht, ich spüre nichts” oder “ich bn auch geschlagen worden, mein Kind schlage ich auch”, “die gesunde Ohrfeige” oder “mir hat es auch nicht geschadet” oder “von unseren Geschwistern hat mich der Vater am meisten geschlagen, aber er hat mich auch am meisten gemocht”, usf. Es kommt zu einem Versuch der Rechtfertigung der Traumatisierung. Diese traumakompenatorischen Schemata sind meist labil, es kommt zu einem inneren labilen Gleichgewicht, die Traumaerfahrung wird unterdrückt (da sie ohne Stabilisierung und sichere Beziehung, die in einer Psychotherapie aufgebaut werden kann und soll, nicht verarbeitet werden kann).

Dekompensationen könnten das absolute Nichts sein, eine massive Wirkungs- und Hilflosigkeit, eine Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses und das Empfinden der absoluten Hoffnungslosigkeit.


Dissoziationen

Wenn die Traumatisierung nicht adäquat verarbeitet werden kann, dann kann es auch zu Dissoziationen kommen. Das sind krankhafte Entwicklungen, in deren Verlauf zusammengehörige Denk-, Handlungs- oder Verhaltensabläufe in Einzelheiten zerfallen, wobei deren Auftreten weitgehend der Kontrolle des Einzelnen entzogen bleibt (Gedächtnisstörungen, Halluzinationen, etc.). Dissoziationen können Verwirrungen, Rationalisierungen, Versteinerungen, etc. sein und werden in Depersonalisationen und Derealisationen eingeteilt.


Dissoziative Identitätsstörung

Es liegen inzwischen zahlreiche Belege dafür vor, daß auch die dissoziativen Störungen zum Traumaspektrum gerechnet werden müssen, deren Extremvariante wiederum eine “multiple Persönlichkeitsorganisation” bildet. Das DSM IV führt die in Tabelle 5 genannten Kriterien an.


Dissoziative Identitätsstörung nach DSM IV

A. Das Vorhandensein von zwei oder mehreren unterschiedlichen Identitäten oder Persönlichkeitszuständen (jede mit einer relativ überdauernden Weise des Wahrnehmens, der Beziehungsgestaltung und der Einstellung gegenüber der Umgebung und der eigenen Person).

B. Zumindest zwei dieser Identitäten oder Persönlichkeitszustände üben wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Persönlichkeit aus.

C. Eine Unfahigkeit, sich an wichtige persönliche Geschehnisse zu erinnern, die über gewöhnliche Vergeßlichkeit weit hinausgeht.

D. Die Störung ist keine physiologische Auswirkung einer chernischen Substanz (z. B. Blackouts oder chaotisches Verhalten während Alkoholintoxikation) oder ein allgemeiner Krankheitszustand.

Zu beachten: Bei Kindern sind diese Syrnptome nicht zurückfuhrbar auf Spielgefährten in der Phantasie oder anderes Phantasiespiel. Die dissoziative Identitätsstörung geht auf zwei Dispositionen zurück, einerseits eine Neigung zu dissoziativen Reaktionen, wie Geistesabwesenheit, starke Vergeßlichkeit usf. Der zweite ätiologische Faktor sind extreme traumatische Erfahrungen in der Kindheit durch physische Mißhandlung und/oder andere Formen extremer Traumatisierung.


Komorbidität

Hier sind die Anpasuungsstörung (akut und chronisch) und Depression, Schizophrenie, Angststörungen und antisoziale Persönlichkeitsstörungen zu nennen. Mit der Depression überschneiden sich der Verlust von Interesse an Aktivitäten, Konzentrations- und Schlafstörungen. Die Differentialdiagnose ist hier schwierig, da sich eine depressive Stimmungslage auchaus den verbreiteten Phänomenen des Schuldgefühls, evtl. den Überlebenden schwerer Traumas ableiten läßt. Zur Schizophrenie sind es die Inhalte der dissoziierten Rückblenden und Erinnerungsbilder. Diese drücken bei Traumatisierten meist die traumatischen Erfahrungen aus. Überschneidungen zur antisozialen Persönlichkeit bestehen in Impulsivität, feindseliger Haltung, sexuellen Funktionsstörungen als Symptomen, etc. Alkoholabusus sind auf Versuche von Traumapatienten zur Selbstmedikation zurückzuführen. Alkohol kann Alpträume unterdrücken, das Erregungsniveau des autonomen Nervensystems reduzieren und nichttraumatische Phantasien fördern.


Traumatische Reaktion

In der traumatischen Reaktion ist die Gewalteinwirkung durch Täter so immens, daß die Bewältigungsmechanismen des Individuums versagen, es kommt zu Notfallsreaktionen, das Individuum muß in der überwältigenden Situation das Überleben sichern, da eine Gegenwehr oder eine Flucht (fight oder flight) nicht zum Erfolg führen. Aufgrund der Massivität des Ereignisses versagen Bedeutungserklärungen. In einem weiteren Schritt kommt es zur Einengung der Wahrnehmung (Tunnelsicht, “ich habe alles vergessen”). Wirkt das Trauma weiter ein und gibt es weiterhin keine Möglichkeit des Entkommens, so kommt es zu einer Erstarrung (freeze), in weiterer Folge zu Leerlauf- und Pseudohandlungen und weiters zu Depersonalisierungen und Derealisierungen. Dies sind die letzten Möglichkeiten, die Situation psychisch zu verarbeiten. Versagt auch dies, so kommt es zu psychotischen Reaktionen. Häufig treten infolge von Traumatisierungen Depressionen (reaktive, rezidivierende) auf.

Bei massiven Traumatisierungen werden einzelne Bilder im Gehirn gespeichert, aber nicht mehr verknüpft, psychische und organische Prozesse laufen parallel aber nicht synchron.

Aus psychobiologischer Sicht werden traumatische Erfahrungen offensichtlich in der rechten Gehirnhälfte gespeichert (Mandelkernregion), dort mit Energie aufgeladen (Stresshormonausschüttung) und überwiegend sensorisch gespeichert. Sie gelangen nicht in die höheren Zentren der linken Hemsiphäre (Hipocampus), die den Kategorien Raum, Zeit und Kausalität unterliegen und sprachliche Codierungen ermöglichen. Dadurch treten zusammenhanglose Sinneseindrücke an die Stelle geordneter Wahrnehmungsbilder und bleiben über lange Zeit lebendig. Sie sind im Gedächtnis eingefroren und können über situative Reize wiederaufleben (trigger, flashback). Der Charakter des Zeitlosen, Unveränderbaren der traumatischen Erfahrung liegt möglicherweise daran, daß die Kategorisierung und Kontextualisierung von Sinneseindrücken nicht gelingt, sodaß akausale, zeit- und raumlose Erinnerungsfragmente reproduziert werden. Hier sei anzumerken, daß Drogen, die in niedrigeren Hirnregionen gespeicherten Traumatisierungsfragmente lösen können, was zu Drogenpsychosen führen kann. Ähnlich kann es sich bei groben Persönlichkeitsveränderungen aufgrund von Alkohol und Drogen verhalten.

Verarbeitungsmöglichkeiten sind die Selbstverdopplung (kann es nicht bewältigen versus Bewältigung durch Dissoziation) in der Folge kann es zu einer Spaltung und/oder einer Projektion auf andere (“die Stimme von außen”, “du siehst mich so böse an, du hast was gegen mich”) kommen.

Aufgrund nicht verarbeiteter Traumatisierungen kommt es immer wieder zum Eindringen von Erinnerungsbildern (Intrusionen, Flashbacks). Dies ist nicht steuerbar. Damit gemeint sind Körpererinnerungen, Erstarrungen des Körpers, die nicht erklärt werden können, bestimmte Träume, etc. In der Traumatisierung werden das Grundvertrauen und die Kontaktgrenze zerstört.


Traumaverarbeitung

Peritraumatische Expositionsphase
Normale Reaktion: Aufschrei, Wut, Trauer, fight or flight
Pathologische Reaktion: Überflutung von Emotionen, Panik, Erschöpfung

Verleugnungsphase
Normale Reaktion: sich gegen die Erinnerung wehren
Pathologische Reaktion: Extremes Vermeidungsverhalten ev. mittels Drogen

Intrusion
Normale Reaktion: Eindringen von Gedanken und Erinnerungsbildern
Pathologische Reaktion: Erlebniszustände mit flashbacks

Durcharbeiten
Normale Reaktion: Auseinandersetzen mit dem traumatischen Ereignis und der persönlichen Reaktion
Pathologische Reaktion: frozen states

Abschluß
Normale Reaktion: Erinnern können ohne Zwangsgedanken
Pathologische Reaktion: psychosomatische Symptome, Phobien, Charakterveränderungen, etc.

Diepold (in Endres) unterscheidet zwischen frühen und späteren Traumatisierungen und mehrmaligen Traumatisierungen. Je jünger ein Mensch traumatisiert wird, desto gefärdeter ist die Psyche, weil das Ich seine Fähigkeiten zur Realitätsprüfung und Antizipation noch nicht ausreichend entwickelt hat und noch keine Strukturen zur Verfügung stehen, innerhalb derer das Trauma bearbeitet werden könnte. Die Art und Weise der Interaktion mit seinen Pflegepersonen entscheidet über die Form oder Qualität des sich entwickelnden Ich-Selbst. Ganz junge Kinder können Traumas weder abspalten, in toto verdrängen oder die traumatische Erfahrung gegen andere Erfahrungen abgrenzen, weil die notwendigen Strukturen für solche Operationen noch nicht vorhanden sind. Bevor Kinder die Fähigkeit zur Symbolisierung und Sprachfähigkeit ausgebildet haben, resultiert daraus folgendes: es kommt zu diffusen Spannungen mit primitiven Generalisierungen der sensomotorischen Schemata und zu einem reaktiven Auslösen von Handlungsmustern wie Schreien, Strampeln, sich auf den Boden Werfen und Abwenden.

Frühe Traumatisierungen sind nicht psychisch repräsentiert, sondern körpernah als innere Spannung oder Unruhe. Das Körpererleben mit diffusen, undifferenzierten und manchmal überwältigenden Spannungen bleibt wie ein Fremdkörper im seelischen Erleben und ist der sprachlichen Bewältigung nicht zugänglich. Dies äußert sich in einem Mangel an Urvertrauen, was bedeutet, daß gute Beziehungserfahrungen nicht verinnerlicht werden können. Stattdessen werden Gefahr und Unberechenbarkeit inkorporiert und die entscheidende Lebenserfahrung ist Unsicherheit und Bedrohung mit einem inneren Szenarium von Gefahr, Vernichtung, Gewalt und Chaos. Das Trauma hat die ganze Welt des Kindes geformt, es ist nicht ein Fremdkörper, sondern Teil des Selbst und der Identität geworden.

Diese frühen Erfahrungen werden im Zuge von Reifungsprozessen des Gedächtnisses und der symbolischen und repräsentativen Fähigkeiten überarbeitet, auf sensomotorischem Funktionsniveau organisiert, erlangen aber keine symbolische Repräsentanz in Form subjektiver Wünsche, Ängste oder Ziele. Die Entwicklung der Kinder ist diskrepant. Sie neigen zu Wutausbrüchen und Impulshandlungen und haben eine Selbstwertstörung, leiden an Vernichtungs- und Trennungsängsten und haben gestörte Kontakte vor allem zu Gleichaltrigen.

Kinder scheinen mit zwei unterschiedlichen Grundmustern auf frühe traumatische Ereignisse zu reagieren: entweder sind sie aggressiv und destruktiv oder erstarrt, depressiv und anklammernd. Innerhalb dieser beiden Grundreaktionsmuster zeigen sie alle Symptome, die bei Borderline-Entwicklungsstörungen auftreten.


Therapie
Grundsätzlich bewegen sich die therapeutischen Möglichkeiten in 3 Stufen,


&Mac183; der Stabilisierung,

&Mac183; der Schaffung einer Beziehung und eines Safe Place

&Mac183; und der eigentlichen Traumabearbeitung.


Dies bedeutet, daß ohne ein Herausnehmen des Kindes aus der traumatisierenden Situation eine Traumatherapie nicht möglich ist, bzw. retraumatisierend wirkt. Solange der Mißbrauch aufrecht ist, die Mißhandlungen geschehen, usf., ist eine Psychotherapie sinnlos und unmöglich. Dies ist sehr wichtig in der täglichen Arbeit in der Jugendwohlfahrt. Wenn der Traumatisierende (etwa durch Wegweisung) entfernt wurde, die Mutter sich getrennt hat oder das Kind fremduntergebracht wurde, dann kann an ein sicheres Setting gedacht werden. Dies ist entscheidend, denn bei Traumatisierungen sind zwar die Methoden einfach (Sachsse) aber aus meiner Sicht der Weg ein langer. Beim sicheren Setting ist die Erstellung klarer Rahmenbedingungen, Strukturen und Regeln wichtig.

Streeck-Fischer betont bei der stationären Psychotherapie schwer traumatisierter Kinder und Jugendlicher das

&Mac183; Schaffen eines erträglichen Rahmens,
&Mac183; Absprechen für eine zeitliche und räumliche Gestaltung des Tagesablaufes,
&Mac183; Dreiergespräche, um Spaltungen Einhalt zu gewähren,
&Mac183; Abstandsbeurlaubungen,
&Mac183; der Umgang mit der Gefahr von permanenten Grenzverletzungen,
&Mac183; das Nein,
&Mac183; das Betonen von Grenzen, von Ordnungen und das Insistieren auf dem Rahmen.

Ich glaube, daß bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen die Arbeit am Setting die halbe therapeutische Arbeit ist, denn wenn Fehler am Setting auftreten, kommen die Klienten wieder in ihre alten Muster, haben Flashbacks, Intrusionen, Gefühlsüberschwemmungen, massive Spannungen, zeigen selbstaggressives Verhalten, das Helfersystem ist massiv überfordert, usf. Dies bedeutet in weiterer Folge, daß die Klienten dann immer weniger bereit sein können, an der Lösung des Problems (etwa Aussagen vor Gericht zu tätigen) mitzuarbeiten, weil sie glauben und in der Folge ja auch bestätigt bekommen, daß niemand das Trauma lösen kann und der Täter übermächtig ist. Sie verlieren einmal mehr den Glauben an eine gerechte Welt und die Hoffnung auf ein “normales” Leben in Friede und Freiheit und das Erleben von schönen Gefühlen ohne ständig Spannungen ausgeliefert zu sein. Struktur ist auch deswegen wichtig, weil es darum geht, erträgliche Räume zu schaffen.

Sachsse berichtet von der radikalen Ansicht der 60er und 70er Jahre, das Trauma müsse wiedererlebt werden, um es verarbeiten zu können. Die Heilungsmöglichkeiten sind uneindeutig, zumal Intrusionen und Flashbacks die Klienten stark überfordern können. Das sind immer wieder Retraumatisierungen. Nach dieser Phase wird dazu übergegangen, die Copingstrategien der Patienten zu beobachten und zu verbessern. Derartige Strategien sind das Spalten in nur gut und nur böse. Es wird versucht, die Spaltung im Klienten zu belassen. Neben die “schlechten” Bilder kommen “gute”. Die Klienten werden angehalten, in eine “nur gute Welt” ohne daß Menschen darin vorkommen, zu gehen (es besteht die Gefahr, daß sie sich Menschen suchen, die bei der Traumatisierung eine Rolle gespielt haben). Es fällt diesen Klienten schwer, sich anfangs eine nur gute Welt vorzustellen. Dies gelingt zunächst nur kurz (für 1 Minute). Erwartungen sollen nicht an reale Menschen gerichtet werden, diese werden dann immer enttäuscht. Es geht darum, einen sicheren Ort, einen “safe place” zu gestalten, in den sich der Klient zurückziehen kann und der ihm absoluten Schutz bietet. Dieser kann konkret gebaut werden – dies ist bei Kindern meist der Fall.

Streeck-Fischer bezieht sich dabei auf Winnicott, der den Raum als Übergangsphänomen sieht. Dieser Raum kann der Psychotherapieraum sein, aber auch als Metapher dastehen. Der Therapeut und der Klient treffen sich im psychotherapeutischen Raum mit ihrem Spiel, das jeweils von dem erworbenen Grad an Spielfähigkeit bestimmt ist. Das gemeinsame Spiel wird so zu einem Aushandeln des Verstehens in einem Raum des Übergangs zwischen Realität und Phantasie. Klinische Psychotherapie findet nicht nur in einem, sondern in verschiedenen Beziehungsfeldern statt, in verschiedenen Übergangs- bzw. Spielräumen zwischen Therapeut und Klient, bei Kindern zwischen Therapeut und Kind, Erzieher und Kind, Sozialarbeiter und Kind usw., in denen gemeinsam eine Bühne des Als-Ob hergestellt wird, um Handlungen in Verbindung mit unbewußten und bewußten Phantasien zu erfassen. Das heißt, daß z.B. jemand statt zuzuschlagen, Feuer zu legen oder sich zu verletzen, lernt, darüber zu reden und Verbindungen zu inneren Zuständen zu ziehen.

Wir wollen gemeinsam mit dem Kind und dem Jugendlichen einen Raum schaffen, in dem sie ihre inneren Vorgänge mentalisieren können, indem ihre inneren Zustände bebildert und sprachlich erfaßt werden, statt als destruktive Handlungen gelebt zu werden.


Dabei ist folgende Erklärung wichtig:

Traumatische Erfahrungen von Gewalt haben den intersubjektiven Raum, den Übergangsraum (Winnicott) oder auch den Raum der Symbolbildung zerstört (Fonagy). Es wird zwischen einem präreflexivem Selbst und einem psychologischen Selbst, als einem inneren Beobachter des seelischen Lebens unterschieden. Das präreflexive Selbst kann seine Reaktionen und seine mentalen Vorgänge nicht in Vorstellungen erfassen, sie innerlich nicht abbilden. Reflexivität wird erst durch einen intersubjektiven Prozeß erworben. Fühlen, Wünsche, Hoffnungen werden durch ein geteiltes Verständnis zwischen Mutter und Kind erschaffen. Die Aufgabe der Mutter ist es, dem Kind einen sozialen und kreativen Spiegel zur Verfügung zu stellen. Bei traumatischen Bedingungen in der frühen Entwicklung kann ein solcher Übergangsraum, innerhalb dessen das Kind sich selbst erfährt, nicht entwickelt werden. Bei späteren Traumata wird der Übergangsraum zerstört. Es handelt sich immer um Überwältigungen durch eine fremde destruktive Geste, die die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen, zerstört und auf die unmittelbare und unvermittelte Erfahrung des präreflexiven Selbst zurückwirft. Die mangelhaft entwickelte Fähigkeit, mentale Zustände zu erfassen, Vorstellungen zu entwickeln, sie sprachlich zu symbolisieren, führt dazu, daß gleichsam bewußtlos gehandelt wird. Unerträgliche Gedanken, Gefühle und eine unerträgliche Realität müssen durch selbst- und fremddestruktives Handeln zerstört werden. Statt eines Übergangsraums bleibt ein leerer, zerstörter oder kollabierter Raum. Je früher der Übergangsraum zerstört wird, desto globaler ist der Verlust, zu symbolisieren. Der Übergangsraum wird durch die radikale Verneinung des anderen zerstört.

Traumatisierte Kinder und Jugendliche zeigen oft den Verlust der Wahrnehmung, Selbstaufblähung und die Verleugnung der Realität. Kinder und Jugendliche bringen anderen Personen und deren Realität eine massive Entwertung entgegen. Jenseits der Begrenzung durch Objekte wird die Illussion einer großen narzistischen Freiheit entwickelt, einem Zustand außerhalb von Recht und Ordnung, eine Pararealität, in der Militanz und Heldenhaftigkeit vorherrschen. Dies sind die narzistischen Auswege, die die äußere Umwelt als ein traumatisches, sie zerstörendes Geschehen erfahren haben., die Selbstentwertung steht im Vordergrund, der andere wird mit seinen Angeboten funktionalisiert, damit auch im Grunde entwertet und in Beziehungshaft genommen. Infolge der Grenzzerstörungen entwickeln sichVerstrickungen, die Mißbrauchs- und Gewalt- bzw. Mißhandlungscharakter haben. Es zeigen sich vielfältige Grenzverletzungen. Männliche Jugendliche verletzen eher die Grenzen der Institutionen, weibliche häufiger die Beziehungsgrenzen und die am eigenen Körper. Dies sind die Orte der Reinszenierung von Mißhandlungen und Mißbrauch an denen der intersubjektive Raum, der Übergangsraum, zusammengebrochen ist und die Illussion der kindlichen Allmächtigkeit nicht sozialisiert wurde.

In der Therapie kommt es zu einer vordergründigen Anpassung, die oft von einem Honeymoon geprägt ist, einer Zeit der gemeinsam geteilten Allmachts- und Rettungsphantsien. Es folgen Grenzüberschreitungen, Feindprojektionen und Entmenschlichung des anderen, die dem gewalttätigen Akt vorausgehen. bei mißbräuchlichen Beziehungsmustern kommt es zu Einbrüchen in und Verletzung der Intimssphäre, die der Reinszenierung der traumatischen Situation, eventuell mit Vergewaltigungs- oder Mißbrauchsbeziehungen vorausgehen.

Um eine Zerstörung des therapeutischen Milieus zu verhindern, seien folgende mögliche Phasen, die zu Problemen in der Therapie führen, angeführt:

&Mac183; Honeymoon - Rettungs- und Größenphantasien, Verschmelzung, gemeinsame Aufblähung als ganz und gar gute Objekte, gemeinsame Realitätsverkennung

&Mac183; Grenzüberschreitung - Mißachtung der privacy of the self, mangelnde Grenzziehung zwischen Intimät und Öffentlichkeit >> Outing, Verlust von Schranken (Generation, berufsrolle), sexuelle Nähe - Verführungen

&Mac183; Traumatisierung - Retraumatisierung - selbstdestruktives Agieren, Opfer-Täter-Verstrickungen, Inszenierung von Vergewaltigungs- oder Gewaltszenen, Etablierung des wechselseitigen Mißbrauchs

&Mac183; Beendigung bzw. Fortführung der traumatischen Situation

Aus therapeutischer Sicht ist in der ersten Phase, in der noch eine Therapiebereitschaft besteht, auf die Grenzziehung zu achten und dem Klienten eine Orientierung zu geben. Es geht um die Herstellung eines mittleren Abstandes zwischen Nähe und Distanz, um die Herstellung von erträglichen Räumen, in denen die anderen weder zu verfolgenden noch abwesenden Objekten werden.

Dies bedeutet in der Praxis:

1. Phase - Honeymoon - Zeit der Entwicklung eines stabilen, an Realität orientierten Rahmens

a. Vermeidung bedrohlicher Objektpositionen zu nahe / zu distanziert
in der Beziehung (mittlerer Abstand, mittlere Nähe)
Herstellen von erträglichen Räumen durch zeitliche und räumliche Gestaltung des Tagesablaufes (Abstandsregulierung, Einzelzimmer, Ruhezeiten, gezielte Aktivitäten, zeitliche Begrenzung des Gruppenaufenthaltes, ...)

b. Arbeit an der Ich-Struktur
- Stützung gesunder Ich-Anteile (Hobbies, Interessen ausbauen)
- Stützkorsett für fluktuierende Ich-Fähigkeiten (Absprachen bei mangelnder Impulssteuerung, Selbst-Fremddestruktivität, Suche nach spannungsabführenden Alternativen, Reizschutz)
- Üben (Spannungs- Affekttoleranz, Alleinsein)

c. Verdeutlichen der Grenzen der Belastbarkeit

2. Phase – Grenzüberschreitungen

Herstellen von Abständen in Beziehungen, räumlich, zeitlich
Abstandbeurlaubung zur Regressionsvermeidung
Arbeit an der Ich-Struktur
Wie werden erträgliche Rahmenbedingungen geschaffen?

3. Phase - Feindbilder

Dreiergespräche zur Integration von Gut-Böse-Bildern
Kontaktverbot zu bestimmten Personen

4. und 5. Phase

frühzeitiges Sorgetragen für den definierten Sündenbock (Erzieher, Patient)
Entlassung vor der Katastrophe

Mit dem Herstellen von erträglichen Räumen werden Funktionen des Mothering und Containing übernommen. Dem Aufbau von Feindbildern kann durch Dreiergespräche und bösartigen Handlungen unter Kindern und Jugendlichen durch Kontaktverbote entgegengewirkt werden. Die ständigen Versuche von Grenzverletzungen sind schwer zu ertragen. Das Nein ist immer wieder schwer zu etablieren, doch ist es für eine Behandlung unabdingbar notwendig.

Riedesser (180, f.) weist auf das Problem des Egozentrismus des Helfers hin. Damit wird die eigene Betroffenheit des Helfers gemeint, wobei die Schwierigkeit verstanden wird, den eigenen Standpunkt des Helfers zu relativieren oder zu “de-zentrieren”. Therapeutischer Egozentrismus liegt immer dann vor, wenn professionelle Traumahelfer Betroffenen nur solche Therapieformen empfehlen, die sie selbst durchgemacht und persönlich als hilfreich erlebt haben, was bedeutet, daß sie eine differentielle Indikation ablehnen, was wiederum der geforderten diagnostischen Plastizität (40 f.) widerspricht. Eine Traumatherapie richtet sich demnach immer nach der individuellen Situation aus.

In der Arbeit ist es für die TherapeutIn wichtig, in kleinen Portionen vorzugehen und sich nicht selbst zu überfordern (Spiegelung) und auf die eigene Resonanz achten.

Welche Gefühle will ich nicht haben?
Wo somatisiere ich?

In der Therapie besteht immer die Gefahr der Retraumatisierung (von Klient und Therapeut).

In der Therapie werden die einzelnen Bilder und scheinbar zusammenhangslosen Fakten verbunden und dazu Gefühle assoziiert, dies kann sehr schmerzvoll sein und das Gefühl der Minderwertigkeit noch verstärken. Durch Gruppenarbeit, Körperarbeit, Phantasiereisen können Traumatisierungen “angetriggert” werden. Daher ist der Aufbau einer Beziehung und das Geben von Klarheit und Struktur vordergründig und wichtig. Eine zentrale Rolle spielt die Arbeit am Selbstwert.

Ich-Stärke (Informationen, Struktur, Stützen und Halten, sich spüren (soviel möglich ist), Realitätsverankerung, Was tut Dir gut?, Hausaufgaben (soviel sie können), jeden Tag etwas tun (eigene Struktur aufbauen – im Trauma werden Strukturen zerschlagen). Das therapeutische Verhältnis muß verläßlich sein. In der Folge kann es zu einer Bereitschaft der Auseinandersetzung mit den alten Traumatisierungen kommen.

Die Spaltung in der Therapie in das “gute Opfer” und den “bösen Täter” bewirkt die Vermeidung der Gefühle von Angst und Schmerz auch beim Psychotherapeuten.

Die Gesellschaft kann sich nur dann für die Opfer einsetzen, wenn die folgenden beiden Vorstellungen akzeptiert werden:

&Mac183; daß die Opfer für ihre Traumatisierungen nicht selbst verantwortlich sind und

&Mac183; daß Opfer, wenn ihnen nicht dabei geholfen wird, die traumatischen Erinnerungen zu bewältigen, zu gewalttätigen und ängstlichen Menschen, zu unzuverlässigen und leicht ablenkbaren Eltern und/ oder erwachsenen Menschen werden, zu Alkohol oder Drogen greifen, um mit den unerträglichen Gefühlen fertig zu werden.


Im ICD-10 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Kapitel V, Forschungskriterien) der Weltgesundheitsorganisation findet sich unter F43. 1 eine analoge Klassifikation.

Das PTSD (Post traumatic stress disorder) zeichnet sich durch ein relativ klares und einfaches Zuordnungssystem aus und ist wohl eher zu eng als zu weit gefaßt. Kritik wurde wiederholt am Algorithmus (= Verrechnungssystem) des Syndroms geübt, z. B. an dem Kriterium, daß für die Diagnose sowohl Verleugnungs- als auch Vermeidungssymptome vorhanden sein müssen. In der Verlaufsbetrachtung der traumatischen Reaktion, erst recht aber im traumatischen Prozeß können die Phasen von Verleugnung und Intrusion zeitlich alternieren. Manche Patienten sind vorübergehend sogar symptomfrei und entwickeln Symptome erst bei einer situativen Neuauflage der traumatischen Erfahrung.


Victimisierungssyndrom. Frank Ochberg, ein Traumaforscher aus Michigan, der sich vor allem mit Therapie für Opfer von Gewaltverbrechen befaßt, hat für die traumatische Auswirkung von Gewalterfahrungen eine Symptomliste vorgeschlagen (1988), die er später zu einem Syndrom zusammenfaßte mit einem eigenen Kalkül für die Diagnose analog zum bPTBS (1993). Das Syndrom besteht aus drei Kriterien (A, B, C) und 10 Symptomen.

Victimisierungssyndrom nach Ochberg (1993, 782, Ubers. G. F. und P. R.)

A. Die Erfahrung einer oder mehrerer Episoden von physischer Gewalt oder psychischem Mißbrauch oder Nötigung zu sexueller Aktivität, dies entweder als Opfer oder als Zeuge.

B. Die Entwicklung von mindestens x (Anzahl muß noch festgelegt werden) der folgenden Symptome (nicht vorhanden vor der Victirnisierungserfahrung):

1. Ein Gefühl, den täglichen Aufgaben und Verpflichtungen nicht mehr gewachsen zu sein, welches über das Erlebnis von Ohnmacht in der speziellen traumatischen Situation hinausgeht (z. B. allgemeine Passivität, mangelnde Selbstbehauptung, oder fehlendes Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit).

2. Die Uberzeugung, daß man durch die Victimisierungserfahrung dauerhaft beschädigt ist (z. B. wenn ein mißbrauchtes Kind oder ein Opfer von Vergewaltigung der Überzeugung ist, daß es für andere nie mehr attraktiv sein kann).

3. Gefühle von Isolation, Unfähigkeit, anderen zu vertrauen oder mit ihnen Intimität herzustellen.

4. Übermäßige Unterdrückung oder exzessiver Ausdruck von Ärger.

5. Angemessene Bagatellisierung von zugefügten (psychischen oder physischen) Verletzungen.

6. Amnesie des traumatischen Erlebnisses.

7. Die Überzeugung des Opfers, an dem Vorfall eher die Schuld zu tragen als der Täter.

8. Eine Neigung, sich der traumatischen Erfahrung erneut auszusetzen.

9. Übernahme des verzerrten Weltbildes des Täters in der Einschätzung von sozial angemessenem Verhalten (z. B. die Annahme, daß es in Ordnung ist, wenn Eltern sexuelle Beziehungen zu ihren Kindern unterhalten oder daß es in Ordnung ist, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, damit sie gehorcht).

10. Idealisierung des Täters

C. Dauer des Syndrorns von mindestens einern Monat.

Es erscheint uns angebracht, das Victimisierungssyndrom (VS) zu den Syndromen der allgemeinen Psychotraumatologie zu rechnen mit spezieller Relevanz für soziale Gewalterfahrungen (Erschütterung und Verzerrung von Prämissen unserer sozialen Welterfahrung).



Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom. In mancher Hinsicht eine Verbindung zwischen bPTBS(basalem psychotraumatischem Belastungssyndrom) und Victimisierungssyndrom stellt das komplexe psychotraumatische Belastungssyndrom nach Judith Herman und Bessel van der Kolk dar (“complex PTSD", im folgenden abgekürzt als kPTBS). Die Folgen vor allem von schwerster, langanhaltender und wiederholter Traumatisierung wie etwa nach Folter, Lagerhaft und fortgesetzter Mißhandlung sucht das kPTBS zu beschreiben. DESNOS ( = Diagnosis of Extreme Stress Not Otherwise Specified) ist der Name der Arbeitsgruppe für das DSM, die sich mit der Formulierung von Kriterien befaßt. Auch die Arbeitsgruppe um das Manual der Weltgesundheitsorganisation, die ICD, bereitet derzeit eine diagnostische Kategorie zum “Persönlichkeitswandel nach katastrophischen Erfahrungen" vor. In das DSM IV wurde das kPTBS noch nicht aufgenommen. Der Vorschlag von Herman u. van der Kolk umfaßt 7 Kriterien bzw. Symptomgruppen.

Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom

1. Unterworfensein unter totalitäre Kontrolle über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) rnit Beispielen wie Geiselhaft, Kriegsgefangenschaft, Uberleben von Konzentrationslagern und einiger religiöser Kulte. Weitere Beispiele sind die Opfer totalitärer Systeme im sexuellen und familiären Bereich, wie Uberlebende von familiärer Gewalt, Kindesmißhandlung, sexuellem Kindesmißbrauch und organisierter sexueller Ausbeutung.

2. Veränderungen der Affektregulierung mit anhaltenden dysphorischen Verstimmungen, chronischer Beschäftigung mit Suizidideen, Neigung zu Selbstverletzungen, explosiver oder extrem unterdrückter Wut (ev. im Wechsel), zwanghafter oder extrem gehemmter Sexualität (ev. im Wechsel).

3. Veränderungen des Bewußtseins, wie Amnesie oder Hypermnesie für traumatische Ereignisse, dissoziative Episoden, Depersonalisation/Derealisation, Wiedererleben der traumatischen Erfahrungen entweder in Form intrusiver Symptome oder in Form von ständigem Orübeln.

4. Veränderungen des Selbstbildes mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Initiativverlust; Scham, Schuldgefühlen und Selbstanklage; eigener Wertlosigkeit oder Stigmatisierung. Gefühl, völlig verschieden von anderen zu sein (etwas Besonderes beispielsweise, Erleben äußerster Einsarnkeit, die Uberzeugung, von niemandem verstanden werden zu können oder nicht menschlich zu sein).

5. Veränderungen in der Wahrnehmung des Täters, wie ständige Beschäftigung mit ihm (z. B. auch in Forrn von Rachegedanken); eine unrealistische Sichtweise des Täters als übermächtig (Vorsicht! Das Opfer kann die Macht des Täters unter Umstanden realistischer einschätzen als der Therapeut); Idealisierung des Täters oder paradoxe Dankbarkeit ihm gegenüber; das Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung zum Täter; Übernahme von Weltanschanung oder Rechtfertigungen des Täters.

6. Veränderung der sozialen Beziehungen mit Isolation und Rückzug, Abbruch von intimen Beziehungen, fortgesetzte Suche nach einem Retter (kann wechseln mit Isolation und Rückzug), ständigem Mißtrauen, wiederholtem Versagen beim Schutz der eigenen Person.

7. Veränderung von Stimmungslagen und Einstellungen wie Verlust von Zuversicht, Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
In der Folge seien protektive und Risikofaktoren in Form einer Checkliste angeführt:


Protektive Faktoren

dauerhaft gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson
Aufwachsen in einer Großfamilie mit kompensatorischen Beziehungen zu den Großeltern und entsprechender Entlastung der Mutter
ein gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust
überdurchschnittliche Intelligenz
robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament
sicheres Bindungsverhalten
soziale Förderungen durch Schule, Kirche oder Jugendgruppen
verläßlich unterstützende Bezugspersonen im Erwachsenenalter, v.a. Ehe- und sonstige konstante Beziehungspartner
lebenszeitlich späteres Eingehen schwer lösbarer Bindungen
eine geringe Risiko-Gesamtbelastung

Risikofaktoren

niedriger sozioökonomischer Status der Herkunftsfamilie mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr
schlechte Schulbildung der Eltern
große Familien und sehr wenig Wohnraum
Kontakte mit Einrichtungen der “sozialen Kontrolle”
Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteiles
chronische Disharmonie
unsicheres Bindungsverhalten nach dem 12./ 18. Lebensmonat
psychische Störungen der Mutter oder des Vaters
alleinerziehende Mutter
autoritäres väterliches Verhalten
Verlust der Mutter
häufig wechselnde frühe Beziehungen
sexueller und / oder aggressiver Mißbrauch
schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen
ein Altersabstand zum nächsten Geschwister von unter 18 Monaten
uneheliche Geburt




Abbildung : Traumatische Erfahrung im Modell des Situationskreises

Erklärung zur Abbildung: Das Schaubild stelIt die wichtigsten Abwandlungen des Situationskreismodells dar, wie sie durch die psychotraumatische Erfahrung hervorgerufen werden. Das Diagramm ist vom inneren Zirkel her nach außen hin zu lesen. Zwischen U1 und S 1 (für Subjekt 1 und Umgebungsfaktor I ) spielt sich der erste Zyklus ab. Die bedrohlichen Umgebungsfaktoren kommen auf das Subjekt zu in einer Weise, die des-sen Deutungsschemata und Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt. Im Inneren des Zirkels ist das Versagen der Bedeutungserteilung angedeutet. Die erste effektorische Handlungsbereitschaft durfte das Karnpfverhalten sein als Versuch, sich zur Wehr zu setzen und die bedrohliche Umweltkonstellation fernzuhalten. Das “Versagen" der ef-fektorischen Sphäre haben wir im Diagramm dadurch angedeutet, daß der Pfeil am Umgebungsfaktor gewissermaBen ins Leere zielt. So kann ungehindert der traumatogene Umgebungseinfluß mit U2 fortgesetzt werden. Hier wirkt sich nun die Fähigkeit zum Probehandeln in der Phantasie dahin aus, daß es zu den beschriebenen Verände-rungen der Wahrnehmung kommt, wie z. B. zur Tunnelsicht, die wir hypothetisch als Ausdruck der Fluchttendenz in der Wahrnehmung verstanden hatten. Ein zweiter ef-fektorischer “Durchgang” durch den Situationskreis nach der gescheiterten Kampften-denz dürfte zunächst Flucht, dann ev. Erstarrung sein. Die Handlungstendenz scheitert an der Realität und wird auf sich zurückgeworfen, was wir über den in sich rückläufigen Handlungspfeil symbolisieren.

Literatur

Fischer, G. & Riedesser, P. 1999. Lehrbuch der Psychotraumatologie.München, Basel: Reinhardt.

Endres, M. & Biermann, G. 1998. Traumatisierung in Kindheit und Jugend, Reinhardt, München, Basel.

Garbe, E. 1991. Martha – Psychotherapie eines Mädchens nach sexuellem Mißbrauch. Münster: VOTUM Verlag.

Streeck-Fischer, A. 1999. Adoleszenz und Trauma. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht.

Streeck-Fischer, A., Sachsse, U. & Özkan, I. 2001. Körper, Seele, Trauma. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht.


Kriegstrauma - wie weit kann Rehabilitation gelingen?

Die Bewohner und Bewohnerinnen des Ethnologisch-Psychologischen Zentrums (EPZ) sind Flüchtlinge, von denen manche den Status vorläufig Aufgenommener haben oder in einem laufenden Asylverfahren stehen. Viele sind durch Kriegserlebnisse und vielfache andere Gewalterfahrungen wie auch durch die Migration selbst traumatisiert.
Von Heidi Schär Sall, Ethnologin und Psychologin, Zürich*


Schwierige Annäherung an seelische Verletzungen

Hintergründe, Entstehung und Prozesse von Traumatisierungen bei Flüchtlingen sind vielschichtig und müssen immer individuell und gleichzeitig im Kontext der Migrationsgeschichte verstanden werden. Denn auch die Migration als solche kann als Trauma wirken. Da es sich um ein Zusammenwirken äusserer und innerer Verhältnisse handelt, um widersprüchliche dazu, kann es auch kaum Klarheit über Beginn und Ende oder über den Verlauf eines Traumas geben. Eine genaue Festlegung wäre ein Konstrukt. Dies gilt auch für die Therapie und die Verarbeitung. Kann es demnach überhaupt so etwas wie Rehabilitation geben? Wie sieht die Annäherung an das Trauma in einer Institution wie dem Ethnologisch-Psychologischen Zentrum (EPZ) überhaupt aus? Und wie kann sich das therapeutische Fachpersonal dem Trauma von Kriegsvertriebenen oder Migranten und Migrantinnen mit unterschiedlichsten Gewalterfahrungen und Beschädigungen nähern?

Faktor menschliche Destruktivität

Oft beeindrucken zuerst einmal die Not und der Mangel, mit denen die Flüchtlinge hier leben und mit denen sie hierher gekommen sind. Die erlebten und erlittenen Zerstörungen - innere wie äussere - übertragen sich vorerst einmal auf das gegenwärtige Leben in der Schweiz.

Dies erfordert von den Ethnologen und Psychologen des EPZ eine Auseinandersetzung mit dem Potenzial menschlicher Destruktivität, die den Alltag der Traumatisierten immer wieder durchquert. Schlaflosigkeit, Verfolgungsängste und Suizidgedanken sind ständig präsent. Kann es denn einen Ort geben, der «die Last des Erinnerns» (Wole Soyinka: Die Last des Erinnerns. Düsseldorf 2000) auf sich nimmt und die Bedeutung der Anerkennung von Schuld wahrnimmt?

Das EPZ hat es sich zur Aufgabe gemacht, der Bedeutung dieses Erinnerns und Anerkennens Raum zu geben. Dies geschieht in der zwischenmenschlichen Beziehung, im Alltag. Es geschieht auch durch das Reflektieren der gegenseitigen unbewussten Projektionen, Nöte und Ängste. Der Zusammenhang zwischen individuellem und sozialem Leid muss immer wieder erhellt werden, wie es David Becker in seiner Arbeit mit Folteropfern in Chile getan und in «Ohne Hass keine Versöhnung» (Freiburg i. Br. 1992) beschrieben hat.

Individuelles und soziales Leid

Sich dem Trauma zu nähern, heisst, sich der eigenen Abwehrhaltungen gegenüber menschlicher Destruktivität bewusst zu werden. Manchmal ist es schwer, die fürsorgerische Betreuung im Kontext der immer wieder neuen Re-Inszenierungen des Traumas zu erfüllen, denn in der Knappheit der materiellen Fürsorge entladen sich die gesellschaftlichen und individuellen Widersprüche oft am spannungsvollsten.

Das EPZ ist ein Ort, an welchem die Nöte und die manchmal verschleierten Diskurse in verzweifelter Dringlichkeit auftauchen. Dies geschieht nicht nur im Gespräch mit den Flüchtlingen, sondern auch durch das Sichtbarwerden von Lebensäusserungen, die die Wahrnehmung des Ethnologen, der Psychologin im Feld - hier im EPZ - in Form einer «anteilnehmenden Beobachtung» (s. Schär Sall Heidi et al.: Überlebenskunst in Übergangswelten, Berlin 1999) herausfordern. Es ist aber auch ein Ort, wo die traditionellen sozialen und psychiatrischen Konzepte an ihre Grenzen stossen, und kann als eine Einrichtung begriffen werden, wo sich die Zusammenhänge von Gesellschaft, Individuum und Wandel aktuell zeigen und wo sich neue Konzepte, neue Verständnis- und Herangehensweisen entwickeln.

Der Übergang vom Destruktiven zum annähernd Produktiven wird hier im Alltag erprobt, immer wieder. Erprobt wird auch der Anschluss der Vergangenheit an die Gegenwart oder die Zukunft, wo eine solche überhaupt vorstellbar ist. Im Vordergrund steht nicht einfach das Leid, sondern auch die Neugier und das Interesse an der Rekonstruktion der zum Teil allzu brüchig gewordenen und fragmentierten Lebensgeschichten und an der Alltagsbewältigung.

Die ganze Gruppe, die Asylsuchenden, die Therapeuten und die Menschen in der Umgebung, steht dabei in einem ständigen Austausch untereinander. Sie kann allzu bedrohliche duale Abhängigkeiten entschärfen und Flexibilität, Abgrenzung, Angleichung, Auswahl, Distanz oder auch Beruhigung bieten. Die Gruppe kann aber auch Auslöser für weitere, mitunter auch paranoide Ängste vor Verfolgung sein.

Die Bedeutung der Gruppe

Auch das Team braucht die Gruppe und die Gruppenkonzepte, um der Verführung eines sich aufdrängenden Handlungszwangs in diesem Notstandsszenario zu widerstehen. Das Seelische soll schliesslich nicht zum Verschwinden gebracht werden, sondern anerkannt und neu belebt werden. Es gibt kein Verschwinden des Traumas, wenn es einmal da ist. Es gibt aber ein Erproben und Erlernen eines Umgangs. Dies erfordert einen langen Atem und kontextbezogene therapeutische Herangehensweisen fernab von überstürzten Schnellverfahren und starren Settings. Denn «das Produktive ist nicht sesshaft, sondern nomadisch» (Michel Foucault: Dispositive der Macht. Berlin 1978).

Diese grosse dynamische Aufgabe lässt sich vermutlich eher angehen unter Berücksichtigung des psychoanalytischen Wissens und einer ethnopsychoanalytischen Praxis, mit neuem Blick auf das noch nicht Gesehene und Gewusste, das doch schon immer da ist und untergründig wirkt. Im Praxisalltag ist dieser Ansatz bedeutend, da sich hier all die erwähnten Dynamiken immer wieder verschieden zeigen. Nachstehendes Beispiel mag das erhellen.

* Die Autorin ist Leiterin des Ethnologisch-Psychologischen Zentrums (EPZ) der Asylorganisation Zürich.


Die Sprache des Traumas - ein Fallbeispiel

Von Elena Wetli, Ethnologin und Soziologin, EPZ

Herr A., ein jüngerer Mann aus einem afrikanischen Land, hatte nach seiner Flucht längere Zeit hinter Gittern gelebt: Er kam in Ausschaffungshaft, da die Schweizer Behörden nicht auf sein Asylgesuch eingetreten waren. Wegen akuter Suizidgefährdung wurde er einige Monate später in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik eingewiesen, wo die Ärzte eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizierten. Als Herr A. in unser Zentrum eintrat, war er nicht mehr in der Lage, ohne Gitter zu leben. Der Ausblick aus seinem Zimmer im dritten Stock versetzte ihn in Panik, er hatte Angst, sich aus dem Fenster zu stürzen, und bat um Gitter.

Herr A. lebte in einer Welt, in der es weder Halt noch Grenzen gab. Jede Begegnung mit einer Person in Uniform, jeder amtliche Brief wurde für ihn zur lebensgefährlichen Bedrohung. Er reagierte mit Lähmungserscheinungen, lag am Boden und war unfähig zu gehen. Dabei bat er (imaginäre) Polizisten um Verzeihung und rief: «Mein Kind ist tot, sie haben es getötet.» Er war von der Polizei aufgegriffen worden, als er sich nachts in die Limmat stürzen wollte. Wir mussten ihn davon abhalten, sich vom Balkon unseres Büros zu stürzen. Er hielt uns für Kollaborateure der Polizei und versteckte sich unter meinem Bürotisch. Notfalleinweisungen in die geschlossene Abteilung der psychiatrischen Klinik waren zu dieser Zeit praktisch an der Tagesordnung.

Leerstellen im Leben

Herrn A.s Leiden war örtlich und zeitlich nicht mehr einzuordnen, vergangene und gegenwärtige Ereignisse vermischten sich in den dramatischen Szenen. Er reinszenierte seine schrecklichen Erfahrungen in seinem neuen Umfeld und diese Reinszenierungen wurden selbst zum Ausgangspunkt neuer traumatischer Erfahrungen.

Doch was waren die Ursachen und Hintergründe seines Leidens, war er gefoltert worden, seine Familie ausgelöscht, welche inneren und äusseren Dramen erlebte er, als er in der Ausschaffungshaft am Rande des Lebens war? Wir konnten nur Vermutungen anstellen, denn Herr A. hatte keine Worte für sein Leiden. Seine Vergangenheit war nicht existent, er hatte sie abgespalten. Was blieb, waren Leerstellen im Leben. Und in den ersten Monaten unserer Beziehung dominierten die Sprachlosigkeit, das Entkontextualisierte, das, was nicht eingeordnet werden konnte, und die dramatischen Reinszenierungen. Wie sollten wir seiner Angst, aber auch unserer eigenen Sprachlosigkeit angesichts dieses Leidens begegnen? Wir versuchten, seine Angst zu halten und auszuhalten, wir versuchten, stellvertretend für ihn, die Fragmentierungen und Spaltungen, die sich im Alltag aktualisierten, als verzweifelte Schutzmechanismen zu verstehen und sie immer wieder in einen Kontext zu stellen. Als Gruppe übernahmen wir eine Haltefunktion, wir wurden zum Container seiner unerträglichen Spannungen und Ungewissheiten und versuchten, ihm einen genügend sicheren Ort, einen Ort der Kontinuität anzubieten, um Retraumatisierungen und erneute Einbrüche zu verhindern.

Das Scheitern an der äusseren Wirklichkeit war programmiert. Herr A. brach alle Beschäftigungs- und Ausbildungsprogramme, für die ich ihn angemeldet hatte, nach kurzer Zeit ab, er hatte Geldprobleme und ging nur sehr unregelmässig zum behandelnden Psychiater. Er war nicht fähig, für sich selbst zu sorgen. Er litt unter Blackouts und vergass, den Herd abzudrehen oder seine Zigarette auszudrücken. Eine Frau aus seinem Land, die er kennen gelernt hatte, anerbot sich, ihm bei der Alltagsbewältigung zu helfen. Sie zog als Begleitperson in unser Zentrum ein, und ihre Präsenz vermittelte ihm eine gewisse Sicherheit. Auch zu uns konnte er allmählich eine vertrauensvolle Beziehung entwickeln. Bei den ersten Anzeichen einer Krise kam er zu mir, so dass die Klinikeintritte nicht mehr notfallmässig erfolgten.

Im Verlauf der psychischen Stabilisierung vermochte Herr A. über seine traumatischen Erfahrungen im Ausschaffungsgefängnis zu sprechen, ohne dabei retraumatisiert zu werden. Ein für ihn entscheidendes Erlebnis war, als er seine Rechtsvertreterin, die sich damals für seine Entlassung aus der Ausschaffungshaft eingesetzt hatte, bei einem ihrer Besuche im Flughafengefängnis begleitete: Er überlebte es, ohne einen Zusammenbruch zu erleiden. Polizisten auf der Strasse begegnete er nun zwar angstvoll, jedoch ohne Panik. Herr A. bat uns, das Gitter am Fenster seines Zimmers abmontieren zu lassen.

Annäherungen an das Unaussprechliche

Doch erst als Herr A. begann, seine traumatischen Erlebnisse der Migration zu verarbeiten, konnte er sich auch seiner vormigratorischen Vergangenheit annähern. Dies geschah auf eine unerwartete Weise: Herr A., der sich seit seinem Eintritt immer wieder für den Computer in meinem Büro interessiert hatte, kam eines Tages mit der Bitte, ins Internet gehen zu dürfen. Er gab den Namen seines Heimatlandes ein, stiess auf Fotos von seiner Stadt und zeigte mir, in welchem Quartier er gewohnt hatte. Er erzählte, wie er damals als Maurer gearbeitet hatte. Bei einem weiteren «Internet-Termin» entdeckte er den Namen des Dorfes seiner Tante, der einzigen Überlebenden seiner Familie. Er stellte sich erstmals vor, wie es wäre, in sein Heimatland zurückzukehren, und fragte mich, ob es dort auch Psychiater gebe.

Es war ein Raum entstanden, wo ein Stück Verarbeitung der Vergangenheit stattfinden konnte. Wir wurden zu Zeugen seiner behutsamen Annäherung an das Unaussprechliche. Herr A. konnte vorerst seine ursprüngliche Traumatisierung noch nicht benennen. Doch mit dem Computer hatte er die Kontrolle darüber, wann er sich mit der Vergangenheit konfrontieren wollte. Herr A. ist nach drei Jahren aus dem EPZ ausgetreten. Er kann sein Leben heute selbständig organisieren, seine massiven Symptome sind verschwunden, und er lebt einigermassen angstfrei. Er hat Kontakt mit seiner Tante im Heimatland aufgenommen.

Doch eine Genesung - im Sinne einer Integration des Traumas in seine Lebensgeschichte - hat nicht stattgefunden. Kann man von einer Rehabilitation sprechen, wenn sein totes Kind (noch) keinen Namen bekommen hat? Gibt es überhaupt eine langfristige Option für eine Rehabilitation, wenn sein Aufenthaltsstatus nach wie vor unsicher ist? Ist es möglich, eine Kontinuität zwischen prä- und posttraumatischem Selbst herzustellen, in einer Situation, wo die psychisch notwendige Illusion von Lebenskontinuität ständig in Frage gestellt wird? Herrn A.s Asylgesuch - auf das schliesslich doch eingetreten wurde - ist abgelehnt worden. Er hat eine vorläufige Aufnahme bekommen, eine Bewilligung, die jedes Jahr erneuert werden muss und jederzeit aufgehoben werden kann. In solch einem unsicheren Setting kann keine Traumatisierung wirklich bearbeitet werden. Hier werden auch die Grenzen unserer Arbeit sichtbar. Trotz allem bestehen wir auf einem narrativen Zusammenhang des Lebens und versuchen, einen zwischenmenschlichen Raum anzubieten, wo ein Anfang einer Integration der erlebten Zerstörung stattfinden kann.

 

Was ich denke

 

Ich habe meinen Artikel und den von Frau Sall vorangestellt, weil ich meine, daß es eines Vorwissens bedarf, um sich mit dieser Materie auseinanderzusetzen. Der Bereich der Traumatisierungen wurde in den letzten Jahren vermehrt beschrieben und es scheint, als ob sich hier eine neue Grundrichtung auftut. Heute wird den Traumatisierungen - vor allem den sehr frühen - eine zunehmende Bedeutung beigemessen. Für mich ist diese eine spannende Herausforderung, doch frage ich mich, wie diese Störungen bearbeitet werden können. Immer mehr komme ich zur Auffassung und schließe mich der Meinung von Frau Sall an, daß nur eine sehr lange, analytisch orientierte Therapie Hilfe bringen kann. Und die Frage bleibt, ob es überhaupt eine Hilfe geben kann. Als Psychotherapeut dürfte ich so überhaupt gar nicht denken, doch muß ich auch dies in Betracht ziehen.